Ingrid Floss: DAS GEHEIMNIS DER BÄUME

„Musik öffnet einem das Herz“, antworte ich oft, auf die Frage, ob sie bei meiner Malerei eine Rolle spielt.

Das Projekt „Das Geheimnis der Bäume“ ist vielschichtig. Bei dieser Kooperation zwischen Kunstakademie und Philharmonie Bad Reichenhall haben sich die teilnehmenden Malerinnen und Maler mit drei unterschiedlichen Aspekten auseinandergesetzt. Einmal mit den Bäumen in ihrer äußeren Gestalt und Ihrer Wirkung in der Natur sowie als Parallele zum Mensch, andererseits mit der Musik Enjott Schneiders, und drittens mit bildnerischen, malerischen Fragen.
Enjott Schneider hat für seine Komposition eine Struktur erarbeitet, die auch Grundlage für unsere Arbeit an den Baumbildern ist. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Ulme, der mittlere Teil mit Baumstrukturen, von den Wurzeln über den Stamm bis zu den Blättern und im dritten Teil geht es um die Fichte. Ulme und Fichte sind beides Baumarten, die im Berchtesgadener Land zu finden sind.
Zunächst zu den Bäumen selbst. Sie sind die unglaublichsten Lebewesen unserer Erde, ohne sie hätten wir keine Luft zum Atmen. Zu 99% erschaffen sie ihre Materie aus der Luft, durch die Umwandlung von CO2 mit Hilfe von Licht. Wir wissen bis heute nicht genau, wie Bäume es schaffen, das Wasser, das sie benötigen, vom Wurzelreich nach oben zu befördern. Bäume sind soziale Wesen, sie versorgen kranke und schwache Exemplare, weil sie „wissen“, dass sie nur im Gesamtverbund Wald stark sind. Sie überliefern sich Botschaften über die Luft über Duftstoffe und unterirdisch über die Wurzeln.

Bäume sind unsere Verbündeten und Freunde. Im keltischen Baumhoroskop sind ihre besonderen Eigenschaften überliefert, die parallel zum Mensch zu sehen sind und uns helfen und begleiten können, wenn wir in Schwierigkeiten sind. Trotz all dieser wunderbaren Eigenschaften behandeln wir Bäume schlecht, sehen sie eher als Material, anstatt ihre Geheimnisse zu entdecken und ihnen mit Ehrfurcht zu begegnen. An der deutschen Alpenstraße bei Ramsau konnte ich eine ca. 1.100 Jahre alte Linde bewundern. Ein wahrer Gigant steht da an der Straße und die meisten fahren einfach vorbei. Mit unseren Bildern wollen wir die Augen der Menschen öffnen. Wie Josef Albers sagte, als er am Black Mountain College anfing und gefragt wurde, was er seinen Schülern beibringen möchte: “ To make open the eyes!“. Auch Bäume sind so viel mehr als wir denken. Je länger ich mich mit diesem Projekt beschäftige, desto mehr merke ich, wie es ein lebenslanges werden kann.

Wassily Kandinsky und Adolf Hölzel, beides Maler, die der Farbe den größten Stellenwert eingeräumt und sie um 1910/20 herum immer mehr vom Gegenstand gelöst haben, bis sie selbst zum Thema der Malerei wurde, sind von der Musik ausgegangen. Sie sprachen von Farbtönen- und klängen, von Harmonie und Disharmonie. Vor ihnen sprach Cézanne bereits davon, das Farben nicht mehr zu modellieren, sondern zu modulieren seien, ein Wort aus der Musik, das den Wechsel von einer Tonart zur anderen beschreibt und auf die Malerei übertragen werden kann. Auch hier beschreibt es den Wechsel von einem Farbklang zum anderen, in dem verschiedene Töne nebeneinander gesetzt und nicht mehr ineinander vermischt werden. Für die Farben hat das eine wunderbare Wirkung, sie mischen sich im Auge, was etwas ganz anderes ist. Ein Rot neben einem Grün steigert sich, wird lebendig und leuchtet. Wenn ich ein Rot unvermischt über ein Grün lege, dann beginnt die Fläche zu flimmern, wenn immer noch das Grün zu sehen ist.
Ich verbinde das einzelne Setzen der Farben mit dem Anschlag eines Tones oder dem Schlagen eines Percussion Instruments. Das Bild als Gesamtes gleicht einer Symphonie. Hölzel sprach auch oft über die Fuge und verwandte dieses Wort für die Malerei. Er meinte damit eine bestimmte Farbtonfolge, die in Abwandlungen im Bild immer wieder auftaucht.

Ein Musikstück wird über einen bestimmten Zeitraum angehört. In einem Bild dagegen ist alles auf einmal sichtbar und der Faktor Zeit spielt eine untergeordnete Rolle. Ich brauche natürlich Zeit, um ein Bild intensiver zu betrachten und mehr sehen zu können. Die Musik Enjott Schneiders hat für mich oft etwas Dramatisches, das heißt alles spitzt sich auf einen bestimmten Spannungspunkt hin zu, um sich am Ende wieder aufzulösen und zur Ruhe zu kommen.
Ein gutes Bild beinhaltet auch ein gewisses Drama. Es gibt Höhepunkte, Stellen von besonderer Intensität, in denen sich die Farben gegenseitig steigern, und es gibt die Leere, den offenen Raum. Vor allem aber die räumliche Tiefe. Das ist das eigentliche Wesen der Malerei. Auf einer Fläche erscheint Tiefe, wo eigentlich keine ist. Das ist vergleichbar mit den Bäumen, die sich selbst eigentlich aus der Luft heraus erschaffen. Wie kann das sein? Ist das nicht eigentlich ein Widerspruch? „Farben sind das trügerischste an der Malerei“ (Josef Albers). Sie verändern ihren Charakter immer wieder, je nachdem welche Farbe in ihrer Nachbarschaft auftaucht. Insofern sind Farben den Bäumen ähnlich, bei all ihren Eigenheiten und ihrem Drang nach Licht sind beide sehr soziale Erscheinungen und von den jeweiligen Nachbarn abhängig.

Ein Bild ist ein Bild und gehorcht seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten. Es gibt wie in der Musik einen Anfang, ein Ende und einen Mittelpunkt. Es gibt aber auch die Ränder und es muss als Ganzes wahrgenommen werden, später kann ich mich dann als Betrachter in die Details vertiefen. Es entsteht räumliche Tiefe - auch in der Musik gibt es Raum, aber anders. Es gibt Zwischenräume, Stille, Pausen und Leere. Aber ein Bild ist immer da. Es existiert eher wie ein Baum oder eine menschliche Erscheinung als ganzer Bildköper. Es ist sinnlich- körperlich und geistig- konzeptionell in einem. Es entsteht Raum durch die Farben, die nach vorne streben und denen, die zurückgehen. Wie die Oberfläche und die Tiefe miteinander verbunden sind, ist jedes Mal anders und neu. Dabei entsteht ein dynamisches Ganzes.

Die Malerinnen und Maler meines Kurses haben sich einerseits am visuellen Vorbild orientiert oder auf die Auszüge der Musik eingelassen, die wir hören konnten, und auch direkt zur Musik gemalt.
Aber: Die Malerei ist kein Abbild der Natur, sondern eine Parallele zu ihr, so Paul Cézanne. In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wollten die abstrakten Expressionisten eher ihrem Gefühl, das sie in der Natur oder bei Erfahrungen in der Natur hatten, Ausdruck verleihen. Ich denke es geht darum, präsent zu sein, das ist bei der Musikerin wie bei der Malerin das Gleiche. Wenn ich nicht berührt bin, dann bin ich nicht wach und voll bei der Sache, das ist das Wichtigste.

Die Ulme ist im Gegensatz zur Fichte ein Baum, der sehr gleichmäßig gerade wächst und in seiner Krone rund (bogenförmig) abschließt. Leider ist sie vom Aussterben bedroht und nur noch selten zu finden. Ihr Wuchs ist gleichmäßig und sie lässt Licht bis zum Boden durch, so dass auch andere Pflanzen in ihrem Schatten wachsen können. Als Farben werden ihr Rot, Orange und Gelb zugeordnet. Die Fichte dagegen ist wetterbedingt (sie wächst ja oft in hohen Gebirgslagen) eher eckig; kantig. Als Form kann man ihr das Dreieck zuordnen. Sie erscheint in kühlen Farben, wie Grün und Grünblau. In einem Fichtenwald fällt wenig Licht auf den Boden. Deshalb wächst dort auch nicht so viel anderes. Die Wurzeln der Bäume bekommen wir nur selten zu Gesicht, obwohl hier ein großer Teil der Kommunikation stattfindet. Der Förster Peter Wohlleben bezeichnet dieses unterirdische Kommunikationssystem in seinem Buch „ Das geheime Leben der Bäume“, als woodwide web. Über den Stamm wird das Wasser transportiert und wie ich neuerdings erfahren haben, dehnt sich der Stamm je nach Mondphase aus und zieht sich wieder zusammen, ähnlich den Gezeiten der Meere, wir sehen es nur nicht direkt. Die Blätter oder Nadeln sind eigentlich ein riesiger Organismus über den der Baum Photosynthese betreibt, sie haben also mit Licht und Luft zu tun.
In unserem Projekt haben sich die Hälfte der TeilnehmerInnen mit der Ulme und die andere Hälfte mit der Fichte beschäftigt, das lag auch an den unterschiedlichen Persönlichkeiten, der Menschen und der Bäume. Danach hat sich die Gruppe dreigeteilt und jeweils ein Thema: Wurzel, Stamm oder Blätter bearbeitet. Ein großes Gemeinschaftsbild, bestehend aus 12 Teilen, 270 x 360 cm groß, ist ebenfalls Teil der Ausstellung. Vorlage hierfür war eine uralte Fichte, die ich in den Schweizer Bergen gezeichnet habe. Die Zeichnung habe ich auf das gesamte Format übertragen und dann jedem eine Bildtafel gegeben, um sie in seiner oder ihrer Weise zu bearbeiten. Am Schluss haben wir dann alles wieder zusammengefügt und ich habe an manchen Stellen, wenn nötig, eine Verbindung hinzugefügt.
Natürlich lassen sich Musik und Malerei sprachlich nur annäherungsweise erklären. Beides sind sinnlich wahrnehmbare Ausdrucksformen, die am Besten „live“ das heißt im Konzert oder in der Ausstellung aufgenommen werden können.
Allem wohnt ein Geheimnis inne, der Musik, der Malerei und am meisten den Bäumen.

Ingrid Floss, München, den 2. April, 2017