Wenn ich ein Bild beginne, denke ich als erstes an eine bestimmte Farbe oder das Zusammenspiel mehrerer Farben. Der Reiz und die Freude an leuchtenden kräftigen Farben und der Wunsch, dass sie sich im Dialog miteinander steigern, ist für meine Arbeit die treibende Kraft. Das Motiv und die räumliche Tiefe eines Bildes entstehen im Verlauf der Arbeit. In meinen Bildern möchte ich Gegensätze zusammenbringen z.B. schnell und langsam; vielfach und einfach; flach und tief; rein und gemischt; scharf und unscharf.
Meine visuelle Sprache habe ich aus der Beobachtung der Natur und anderer Malerei entwickelt. Inzwischen sind meine Bilder selbst zu einem Stück "Natur" geworden, das ich während des Malprozesses beobachte und weiterentwickle. In ihnen spiegelt sich meine Sehnsucht nach Natur und der Wunsch die Farben zum strahlen zu bringen, sie im Raum präsent werden zu lassen.
Ich versuche eine Raumtiefe zu schaffen, die der Betrachter als einheitliches Ganzes, sozusagen in einem Atemzug aufnehmen kann. Ähnlich einer Landschaft von Ruysdael, die den Blick weit in die Ferne schweifen lässt, vom Vordergrund an den einzelnen Lichtpunkten entlang in die Tiefe und wieder zurück.
Meine Arbeiten entstehen meist über einen langen Zeitraum. Am Anfang gibt es zunächst einmal keine Bedeutung. Nur Farbe auf Leinwand. Alle möglichen Reste oder frische Farbe aus der Tube. Eine bestimmte Farbkombination, oder was gerade von den vorhergehenden Bildern auf der Palette ist. Aber diese Farben kommen ja von der zuvor abgeschlossenen Arbeit, sie sind Mischungen für die Bilder an denen ich gearbeitet habe, also schon etwas Erarbeitetes. Wenn ich eine Farbe direkt aus der Tube nehme, reagiere ich auf den Maluntergrund. Ob er hell ist oder dunkel und welche Struktur die Grundierung hat, die parallel zum Keilrahmen verläuft. Damit komme ich zum Format, das ich wähle, weil es zu meinem Pinselstrich passt, oder zur Ausdehnung meiner Bilder nach rechts, links, oben und unten.
Was willkürlich erscheint, ist das Ergebnis einer sehr bewussten Entscheidung. So wie im Leben, wenn manchmal alles keinen Sinn ergibt und in tausend Einzelteile zerfällt. Im nächsten Moment wächst dann wieder alles zusammen, erscheint richtig und sinnvoll. In diesem Hin- und Herschwanken lebe ich und darin entstehen auch meine Bilder. Bei Lebendigkeit und Vielfalt suche ich in ihnen nach Klarheit und Ruhe.
Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Fernsehen, Computer, Leuchtreklame usw. ganz alltäglich sind. Wir erleben das Leben durch Computerspiele und Reality Shows. Ich liebe die Wüste von Australien und zugleich auch das pulsierende Shanghai oder New York. Mittags kann ich bayerisch und abends chinesisch essen. Eine Hälfte der Woche lebe ich in der Stadt, die andere auf dem Land. In meinen Bildern spiegelt sich diese Zerreißprobe, die ich manchmal auch im Leben empfinde. Ich versuche die vielen visuellen Eindrücke, die jeden Tag auf mich einströmen, miteinander in Einklang zu bringen. Die Farben sind Stellvertreter für Gedanken, die mir durch den Kopf schießen, auf- und abtauchen, wie bunte Lichter, manchmal zu grell und schrill und dann wird der Blick wieder frei für das, was darunter liegt.
Ich denke, Bilder sind wichtig. Man taucht mit dem Blick ein in eine andere Welt, weg von sich selbst und kommt wieder zurück, durch die Farben und Pinselstriche, die ganz körperlich an der Oberfläche stehen.
Meine Bilder sind wie eine Gebirgslandschaft, wie das Gesicht eines alten Menschen, der viel erlebt hat, oder das eines Jungen voller Erwartung, oder wie der Münchner Olympiaturm, der nachts blinkt, damit keine Flugzeuge hineinfliegen: eine eigene visuelle Sprache.
Ingrid Floss